Kommentar von Sebastian Nicolle
erschienen in Protocol/ Architektur im Kontext/ #5 Neuland/ Verlag der Universität der Künste Berlin 2013
Intro:
dramatische Musik, die Kamera im Vogelflug über Berlin
Eine Stimme aus dem Off: „Wir haben Städte aus den Krusten der Erde geschlagen. Stein um Stein haben wir ihre Haut nach außen gestülpt, geschichtet, erweitert, der Sonne entgegen, die Wolken durchbohrend. Mit unseren Mühen wuchsen die Namen. Und schon bald ahnten wir: Diese Dinge die wir erschufen waren weit mehr als die Summe Ihrer Steine, Türen und Schlote. Sie waren Abbilder unserer tiefsten Wünsche und Ängste...
Und die Steine waren gesprächig, geschwätzig. Sie erzählten Geschichten und sangen Lieder. Doch nicht immer schmeichelten sie unseren Ohren... Und so kam die Zeit, einige unliebsame Geschichtenerzähler los zu werden.
Das dunkle Zeitalter der Geschichtenfresser war angebrochen. Und es gab nur einen Ort, wo die aus der Zeit Gefallenen, die Verachteten, Unbewohnten und Vergessenen Zuflucht finden konnten, in der vagen Hoffnung, eines Tages wieder das Licht der Sonne erblicken zu können...“
---Tatata.
So ähnlich sieht mein innerer Trailer aus, wenn ich einen dieser zum sterben schönen, aus der Zeit gerissenen Orte entdecke, in welchem sich Geschichte mit Geschichten verbindet, wo man sich die Frage stellt, ob die Menschen die Räume gebaut haben oder ob die Räume nicht schon immer da waren. Für sich selbst. Und immer schwingt die schaurig-schöne Frage mit: Was passiert mit diesem Ort, wie lange wird es ihn so noch geben. Diesen Ort, den vielleicht nur einer auf diese Weise wahrnimmt...
Berlin kennt tausende solcher Orte, die vorgestern noch Mauer waren, gestern Zwischennutzung, heute Spekulationsobjekt und morgen... Und diesen Orten wohnt der Zauber des vergänglichen inne, der Zauber einer intensiv erlebten, unsichtbar verschachtelten Gegenwart.
Ständig stellt sich mir die Frage, wo wir Architekten uns positionieren können... und was aus diesen vielen wundervollen Orten wird, gerade auch jenen, die ihr bedeutungsschwangeres Dasein nicht in Architekturführern fristen. Beide Fragen hängen zusammen.
Wenn ich vor Jahren noch glauben wollte, dass wir Architekten in Corbusierscher Manier die schöne neue Welt erschaffen, also Platz schaffen für Neues, Besseres, so scheint mir heute, dass zu großen Teilen Investoren, Politiker, Juristen und Baustoffproduzenten diejenigen sind, welche die Neue Welt gestalten. Ökonomische Gewinnmaximierung und der Wille zur Repräsentation schreiten Hand in Hand in die Zukunft. Und letztlich war es vielleicht immer schon so.
In einem solchen Kontext kann es nicht unsere Aufgabe sein der vagen Hoffnung nach zu gehen, eines Tages ein schönes Häuschen bauen zu dürfen. Vielmehr befinden wir uns in einem Kampf um Deutungen, Wertungen und den Erhalt bzw. die Schaffung der Anschlussfähigkeit von Räumen und Räumlichem.
Wollen wir Raum gestalten, müssen wir Ihn als erstes überhaupt wieder einer demokratischen, sozio-kulturellen Debatte zugänglich machen. Anders gesagt müssen wir überhaupt erst einmal sehen und verstehen, worüber wir da reden, wenn wir von Architektur sprechen...
Und das sieht in meinen Augen folgendermaßen aus: Die Baulücke als zu stopfendes Loch in einem starren Gesamtgefüge sich widersprechender Ideologien ist abgelöst worden von einem riesigen Schwamm mit all seinen Öffnungen, Gängen und Verzweigungen. Es geht um Aufnahmefähigkeit, um Elastizität und um den strukturellen Zusammenhalt der vielfachen Verzweigungen, um das was Urbanität ermöglicht und lebenswert macht. Es geht darum sich aufsaugen zu lassen und schwimmen zu lernen.
Ein Asyl für die Zu(ku)nft
MONO hat ein Asyl erdacht. Einen Ort, an welchem gebaute Zeitzeugen Zuflucht finden können vor dem unerbittlichen Zahn der Meinungen. Vielleicht um eines Tages wieder gefunden zu werden. Das ist mehr als ein Bild. Es ist eine Strategie des Sehens, der Annäherung. Wenn also MONO die gesammelten Bauwerke und Orte in Ihr Asyl parken so tragen sie mit all ihrem Wissen und Forschen dazu bei, die Gegenwart des
Raums sichtbar und das heißt verhandelbar zu machen. Nicht allein der Stein ist die Ressource, sondern der ihm zugedachte Wert, der Gedanke: Was ist eine Ikone, wer stellt das fest? Wer bestimmt darüber, was mit ihr geschieht?
Manchmal ist es eine Geschichte die am Stein klebt. Unsichtbar, verborgen. Und manchmal fordert der Stein uns auf, eine Geschichte weiter zu schreiben, wie ein weißes Blatt Papier. Überlagern wir diesen Stein, entsorgen wir Ihn, deuten wir Ihn um? Vor unseren Augen entfaltet sich ein unendlich erweiterbarer Katalog an Fragen über die Stilvorstellungen unserer Zunft, die Wünsche von Bauherren, das technisch Machbare, das ökologisch Sinnvolle, das egomanisch Vernünftige, das sozial Verantwortbare, das historisch Bedeutsame etc. Diese Fragen sind sicherlich nicht neu. Und umso mehr muss uns interessieren, welche Antworten wir geben.
Alles wie immer schon?
Anhand der Ikonenstadt wird die Notwendigkeit ganzheitlichen Denkens sichtbar. Raum und Ort sind keine vordefinierten Phänomene. Vielmehr wollen sie entdeckt, benannt und verhandelt werden. Die Ikone ist ein Tor zu dem, was dem Auge verborgen bleibt, dem, was einzig für die Seele sichtbar wird.
Lasst uns spazieren gehen.
Wir werden reden.
2020